Annexion Südtirols

Die Postkarte.

Eine satirische Postkarte über den Rücktritt Bissolatis.

Bei der Historegio-Quelle des Monats August handelt es sich um eine satirische Postkarte, die den politischen Rückzug des Begründers der Reformsozialistischen Partei, Leonida Bissolati, zum Gegenstand hat. Er trat im Dezember 1918 von seinem Amt als Minister zurück, da er innerhalb der Regierung in außenpolitischen Fragen eine Minderheitenposition einnahm. Ein entscheidender Streitpunkt war auch seine abweichende Haltung bezüglich der italienischen Ansprüche auf Südtirol.

Die Causa Bissolati sorgte damals für große Aufregung und ist auch heute noch zentral für die historische Analyse und für das Verständnis der schwierigen politischen Lage der unmittelbaren Nachkriegszeit. 

In diesem kurzen Artikel wird ein kleiner Einblick in die Entstehungszusammenhänge der Karte gegeben, um die Rolle der Südtirol-Frage bei Bissolatis Rückzug, den der Karikaturist Annibali schließlich satirisch aufgriff, zu verstehen.

Zu Kriegsende 1918 mangelte es im italienischen Parlament nicht am Bewusstsein, dass die Angliederung der Gebiete südlich des Brenners ein Problem für den italienischen Staat darstellen konnte. Der Reformsozialist Leonida Bissolati war ein Vertreter jener politischen Strömungen, die sich am entschiedensten gegen diese Ansprüche äußerten. 

War er zu Beginn des Krieges noch ein überzeugter Interventionist gewesen, kritisierte Bissolati zunehmend und immer offener die extrem nationalpatriotische Stimmung, die sich in der Nachkriegszeit, auch im italienischen Parlament, breitmachte. Er könne den Umstand nicht akzeptieren, nachdem Italien 1915 in den Krieg eingetreten war, "um rund dreihunderttausend Trentiner zu befreien, dass noch zusätzlich hunderfünfzigtausend Deutsche in den italienischen Staat" eingegliedert werden sollten. Eine Bemerkung am Rande: Bissolati unterschätzte bei seinen "Befürchtungen" sogar die Anzahl der deutschsprachigen Südtiroler und Südtirolerinnen.

Während des Ministerrats am 16. Dezember 1918, also wenige Wochen vor Beginn der Pariser Friedensverhandlungen, schlug Bissolati vor, dass Italien spontan und eigeninitiativ auf jene Gebiete verzichten sollte, die einen Bruch mit Österreich und dem entstehenden jugoslawischen Staat verursachen konnten. Dieser Vorschlag galt somit auch für das deutschsprachige Südtirol. Obwohl einige Minister prinzipiell mit ihm übereinstimmten, wurde sein Vorschlag nicht in Betracht gezogen. In den folgenden Tagen trat Bissolati schließlich zurück. Sogar die Presse in den alliierten Ländern berichtete über den Fall Bissolati. Die englische "Morning Post" war etwa die erste Zeitung, die ein Interview mit dem zurückgetretenen Minister veröffentlichte. 

Bissolati hatte das Vertrauen in das Parlament verloren und deshalb beschlossen, seine Überzeugungen im Mailänder Theater „La Scala“ auf direktem Wege der Öffentlichkeit zu präsentieren. Sein Vorhaben scheiterte aber kläglich an den wiederholten Unterbrechungen durch Proteste und Schreie einer Gruppe von Nationalisten, unter denen sich auch Benito Mussolini und Filippo Tommaso Marinetti befanden. 

Der Vorfall in der „Scala“ stellt jene Szene dar, auf die sich die Karte bezieht und die Annibali als Karikatur präsentiert: Ein Mann, der unzweifelhaft Bissolati darstellt, fällt von einer Leiter. In der Hand hält er ein Blatt, das deutlich die konsequente Bindung des Politikers an die Prinzipien darstellt, die er in seiner Rede erwähnen wollte.

Damit ist auch die Redewendung der Karte erklärt: "Chi dalla scala più fischi prende, cade di sotto precipitevolissimovolmente" ("Wer an ‚der Leiter‘ [la Scala] mehr Pfiffe einheimst, fällt rascher herunter".) Tatsächlich hatte dieses Ereignis für Bissolati - der in eine Depression verfiel – den Ausstieg aus der Politik zur Folge. Zwar veröffentlichten die wichtigsten Tageszeitungen seine Rede und betonten die Bedeutung ihrer Thesen in ausführlichen Kommentaren. Die Haltung der Presse unterstreicht aber letztlich Bissolatis politische Isolation: Auch wenn das gute Ansinnen seiner Prinzipien anerkannt wurde, ging man mit Blick auf seine konkreten Vorschläge auf Distanz.

Der öffentliche Rückzug einer kohärenten und kämpferischen Persönlichkeit wie Bissolati bedeutete einen schweren Verlust für das Anliegen der deutschsprachigen Südtiroler. In den folgenden Monaten vernahm man in Italien nur mehr wenige und zunehmend leisere Stimmen, die sich im Parlament kritisch zur Annexion Südtirols äußerten.

Weiterführende Literatur: 

Zur Biographie Leonida Bissolatis vgl. online das "Dizionario biografico Treccani": http://www.treccani.it/enciclopedia/leonida-bissolati_%28Dizionario-Biografico%29/

Corsini, Umberto, l'Italia di fronte alla fine dell'impero asburgico: problemi interni e internazionali, in: Casimira Grandi (a cura di): Tirolo - Alto Adige - Trentino 1918-1920: Atti del convegno di studio Tirolo - Alto Adige - Trentino 1918-1920, Innsbruck, 6-8 ottobre 1988, Trento 1996 (Collana di monografie edita dalla Società di Studi Trentini di Scienze Storiche 53), p.47-57.

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Magda Martini

Historegio-Projekt: "Italien, Südtirol und der Pariser Frieden 1919: politische Haltungen, diplomatische Strategien und öffentlicher Diskurs". 

Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte - Freie Universität Bozen

Kontakt: magda.martini@unibz.it

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