Verstehen

"Corriere della sera", 10. Dezember 1921

Luigi Credaros Rede im Senat: Die italienische Politik in Südtirol zwischen der Kritik der italienischen Nationalisten und der Ablehnung der Südtiroler.

Die Quelle des Monats November 2021 stellt die Analyse der Rede des Generalzivilkommissar für „Venezia Tridentina“ Luigi Credaros im Senat Dezember 1921 dar. Es geht um einen der wenigen Momente, in denen Südtirol Diskussionsgegenstand im Parlament des liberalen Italiens wurde. Die Debatte, die es auf die Titelseiten der Zeitungen schaffte, hob noch einmal die Schwierigkeiten der italienischen Politik in Südtirol hervor.

Die italienische Politik in Südtirol wurde in der Nachkriegszeit nicht oft Gegenstand der Debatten im italienischen Parlament. Einer der seltenen Zeitpunkte, in denen die italienischen Parlamentarier sich mit dem beschäftigen, was in Bozen stattfand, war, als im Dezember 1921 die zwei nationalistischen Senatoren Girolamo Vitelli (1849-1935) und Nino Tamassia (1860-1931) im Senat eine Interpellation (parlamentarische Anfrage) einreichten, die nach einer Verurteilung der politischen Aktion des Generalzivilkommissars für „Venezia Tridentina“ Lugi Credaro (1860-1939) klang.

Die zwei Senatoren bedauerten eine aus ihrer Sicht übertriebene Liberalität den Deutschen gegenüber und insbesondere die Wirkungslosigkeit und die Schwäche der Schulpolitik, die bis dahin umgesetzt worden war. Tamassia behauptete sogar: “L’Italia non mira a snazionalizzare alcuno, ma non può riconoscere un territorio esclusivo di lingua tedesca nel quale sia vietata la lingua italiana.” (Italien zielt nicht darauf ab, jemanden zu entnationalisieren, aber es kann kein exklusivdeutschsprachiges Gebiet anerkennen, in dem die italienische Sprache verboten wird.” In Wirklichkeit herrschte in Südtirol kein Verbot der italienischen Sprache vor, aber die Polemik entstand aus der Tatsache heraus, dass der Italianisierungsprozess, der am Anfang als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, sich alles andere als einfach erwies. Credaros Antwort war ein Meisterstück der Rhetorik, welche die Loyalität zum Vaterland mit dem Pragmatismus eines Mannes verband, der den Anschluss von Südtirol an Italien nicht als eine Eroberungsaktion interpretiert hatte.

Credaro selbst war der Initiator des Corbino-Gesetzes, mit dem die italienischsprachigen Familien ab September 1921 verpflichtet wurden, ihre Kinder in die italienischen Schulen einzuschreiben. Dieses Gesetz war einerseits das Ergebnis der didaktischen Überzeugungen Credaros, der vor allem ein Pädagogikexperte war: Er war überzeugt, dass es widersinnig war, den Kindern in einer anderen Sprache schreiben zu lehren, als die, die sie im eigenen Haus sprachen. Aber das Corbino-Gesetz war eigentlich durch den Druck der Nationalisten entstanden, vor allem der Mitglieder der Gesellschaft “Società Dante Alighieri”, die für die Italianità im In- und Ausland kämpften. Das Gesetz wurde summarisch angewandt, weil die Muttersprache der Familien von den italienischen Behörden bestimmt wurde. Credaro, der ursprünglich als deutschfreundlich galt, zog sich mit diesem Gesetz deswegen in bestimmten Kreisen die Ablehnung der Südtiroler zu.

In Credaros Rede im Senat am 10. Dezember 1921 ergaben sich auch viele praktische Probleme, die die italienische Politik in Südtirol in den ersten Jahren hatte. Zum Beispiel waren die Mittel der italienischen Schulen sehr überschaubar: Während die Nationalisten die Notwendigkeit die italienische Bildung aufzuerlegen beanspruchten, waren die Zustände der Schulgebäude für den Unterricht sehr schlecht, da sie viel weniger komfortabel und ausgestattet als die deutschen Schulen waren. Das erklärt teilweise das Desinteresse der italienischen Familien für die italienischen Schulen.

Die Analyse der Rede von Credaro, sorgfältig im Kontext des Klimas des Misstrauens ihm gegenüber interpretiert und durch die Polemiken der Nationalisten verschlimmert, hilft uns zu verstehen, wie wenig drei Jahre nach dem Waffenstillstand von der Absicht einer friedlichen Koexistenz und einer demokratischen Verwaltung übriggeblieben war.

Literaturhinweise:

Andrea Dessardo: Presìdi e prèsidi: La scuola in Alto Adige nel primo dopoguerra tra occupazione italiana e resistenza tirolese (1918-1922), in “Rivista di storia dell’educazione” 1/2017, pp.73-92.

Claus Gatterer, In lotta contro Roma. Cittadini, Minoranze e Autonomie In ItaliaBolzano, Praxis, 1994, SS. 351-357.

Magda Martini

Historegio-Projekt: "Italien, Südtirol und der Pariser Frieden 1919: politische Haltungen, diplomatische Strategien und öffentlicher Diskurs".

Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte - Freie Universität Bozen

Kontakt: magda.martini@unibz.it

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