Verstehen

"il Popolo d'Italia", 26. April 1921.

Der Bozner Blutsonntag 1921 im Spiegel der italienischen Presse

Die Quelle des Monats Mai 2021 befasst sich mit der Haltung der italienischen Presse gegenüber der faschistischen Gewalt des Bozner Blutsonntags, ausgehend von der Berichterstattung der mussolinischen Tageszeitung „il Popolo d’Italia.”

Am 24. April 1921 kam eine Gruppe von Faschisten mit dem Zug aus dem Süden in Bozen an. Mit Feuerwaffen und Handgranaten bewaffnet, schleusten sich die Faschisten in den Umzug für die Frühlingsmesse ein. Sie verletzten an die vierzig Südtiroler und erschossen den Lehrer Franz Innerhofer aus Marling. Dieser Vorfall, der wie eine Wunde die erste Zeit des Zusammenlebens zwischen den Südtirolern und dem italienischen Staat stark beeinflusst hat, erhielt von der italienischen Presse keine große Beachtung.

Die Faschisten beschrieben ihre Interpretation der Ereignisse in dem „Popolo d’Italia”. Über den Vorfall gab die faschistische Tageszeitung dabei keine genaueren Informationen preis. Sie verklärte ihn hingegen als einen „Konflikt zwischen Deutschen und Faschisten”. Die Zeitung beschrieb stattdessen die Ursachen mit den respektlosen Formulierungen, die für die Zeitung üblich waren. Nach der Analyse des „Popolo d’Italia” waren mit der Politik der Regierungen Nitti und Giolitti die blutigen Zwischenfälle vorhersehbar gewesen. Auf der Grundlage von dieser Darstellung wurde die Verantwortung für die Bozner Ereignisse nicht den Faschisten zugeschrieben, sondern der „wahnsinnigen Feigheitspolitik”, die seit dem Waffenstillstand 1918 zwei Jahre lang von den italienischen Behörden ausgeübt wurde. Diese hätte den „Pangermanisten” volle Freiheit gelassen. Ohne zu erklären, wie dieser Umstand direkt zu der Bozner Gewalttaten führen konnte, zählte die Zeitung die zahlreichen Initiativen auf, die von den „Pangermanisten” in Südtirol durchgesetzt worden wären. Damit erübrigte es sich für den „Popolo d’Italia”, nähere Begründungen für die Taten der Faschisten zu erörtern.

Es ist interessant zu beobachten, dass sich die Interpretation zwischen dem „Corriere della sera” und dem „Popolo d’Italia” nicht sehr unterscheidet. Obwohl sie die schwere Schuld einzelner Agitatoren nicht leugnete, relativierte die liberale mailändische Zeitung die politische Verantwortung der faschistischen Führung. Dazu bot der „Corriere” den Faschisten einen mildernden Umstand an, als sie schrieb: man könne die „für unsere Selbstachtung und unsere Würde irritierenden Bedingungen erkennen, die die Faschisten zu einer Erklärung veranlasst haben, die jedoch über die Absichten der Organisatoren hinausging”.

Die sozialistische Zeitung „Avanti!” meldete, dass keine Zeitung den Mut aufbrachte, die Verantwortlichen der Bozner Gewalttaten als Mörder zu bezeichnen. Aber wie kann man das Fehlen einer Verurteilung der faschistischen Gewalt am Bozner Blutsonntag von der italienischen Presse erklären? Um eine Antwort darauf zu finden, ist es notwendig, die historischen Hintergründe jener Zeit zu betrachten und dabei zwei wichtige Aspekte zu berücksichtigen:

1. Zunächst muss man bedenken, dass Italien in den ersten Jahren der Nachkriegszeit zum Schauplatz für ständige Gewalttaten von entgegengesetzten politischen Strömungen wurde. Die Streiks der sogenannten „zwei roten Jahre” (biennio rosso, 1919–1920) und die faschistischen Überfälle verursachten zumindest 3000 politische Tötungen in den vier Jahren vor dem faschistischen Machtergreifung, sodass die unmittelbaren Nachkriegsjahre von einigen Historikern als „Bürgerkrieg” bezeichnet wird.

2. Zum anderen ist es wichtig zu berücksichtigen, dass die faschistischen Initiative in jener Zeit nicht nur von der Regierung, sondern auch von der liberalen Öffentlichkeit wohlwollend bewertet wurde. Unruhen, Gewalttaten und Einbrüche wurden als Ventil der ehemaligen Soldaten betrachtet, die angesichts der langen und manchmal ergebnislosen Politik ungeduldig geworden waren. Im Gegensatz zu der gefürchteten sozialistischen Bewegung wurden die Übergriffe des Faschismus von der Presse sowie vom Parlament unterschätzt. Es wurde zum Beispiel beobachtet, dass der vom Antisozialismus verblendete „Corriere della sera” nicht in der Lage war, die faschistische Gefahr zu erkennen.

Der Zusammenhang, in dem der Artikel über die Bozner Gewalttaten in Mussolinis “il Popolo d’Italia” veröffentlicht wurde, kann ein aussagekräftiges Beispiel bieten für das damalige politische und gesellschaftliche Klima: Wie man auf der Reproduktion der Zeitungsseite sehen kann, war der kleine Ausschnitt über den Bozner Vorfall in einer Reihe neben anderen kurzen Artikeln eingefügt, die von ähnlichen, in anderen italienischen Städten geschehenen „Unfällen” berichteten. Diese Artikel standen unter einem bedeutungsvollen Titel: Il Fascismo passa trionfante per ogni contrada d’Italia!, d.h. Der Faschismus geht auf jeder Straße Italiens triumphierend vorbei!

Literaturhinweise:

F. Fabbri, Le origini della guerra civile. L’Italia dalla Grande Guerra al fascismo (1918-1921), Torino, Utet, 2009.

S. Colarizi, Il Corriere nell'età liberale. Profilo storico, in Storia del Corriere della sera, herausgegeben von Ernesto Galli della Loggia, Band II, 1, Milano, Rizzoli, 2011.

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Magda Martini

Historegio-Projekt: "Italien, Südtirol und der Pariser Frieden 1919: politische Haltungen, diplomatische Strategien und öffentlicher Diskurs".

Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte - Freie Universität Bozen

Kontakt: magda.martini@unibz.it

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