Regionales Nation-Building

Christian Schneller, Deutsche und Romanen in Süd-Tirol und Venetien, Gotha 1877, S. 370

„Mit Deutschland werden wir ein Garten, mit Italien eine Alpe sein.“

Die HISTOREGIO-Quelle-des-Monats September ist ein Zitat, das gezielt in Zeitschriften und Büchern verwendet wurde: „Mit Deutschland werden wir ein Garten, mit Italien eine Alpe sein.“ Ein ungenannter, „kluger“ Roveretaner Kaufmann habe diesen Spruch um 1850 getätigt. Als wortwörtlich gleichbleibende Wohlstands- und Fruchtbarkeitsmetapher erscheint diese Aussage als wirtschaftliches Argument gehäuft in deutschsprachigen Abhandlungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts und richtet sich gegen den Anschluss „Süd“- oder „Welschtirols“ (das Gebiet des heutigen Trentino) an Italien.

Eine Wegkreuzung?

Im Prinzip wird mit dem Ausspruch der Anschluss des Trentino an Italien aus wirtschaftlichen Gründen abgelehnt. Als eine schicksalshafte Weggabelung dargestellt, verbirgt sich hinter der unumgänglichen Entscheidung, welcher Pfad ausgewählt werde („Deutschland“ oder „Italien“), das wirtschaftliche Schicksal des mehrheitlich italienischsprachig besiedelten südlichen Teils Tirols. Ertragreich wie ein Garten gestalte sich das Gebiet um Rovereto nur im Verbund mit „Deutschland“. Als Teil „Italiens“ hingegen werde man nur eine zweitklassige Rolle – die einer Alpe – einnehmen können. Das wirtschaftliche Alleinstellungsmerkmal ginge verloren.         
Im Rahmen der literarischen Verwendung des Ausspruches in den späten 1870er und 1880er Jahren wird die Metapher gezielt als wirtschaftliches Argument gegen einen Anschluss des historischen südlichen Tirols an das Königreich Italien angeführt. Wirtschaftliche Rationalität solle einen solchen drastischen Schritt verhindern. Die Metapher steht in Tradition einer wirtschaftlichen Gegenargumentation, die auch deutlich in den Tiroler Landtagsakten nach 1866 greifbar wird und dem italienischen Vereinigungsnationalismus entgegengehalten wurde.

Kontextualisierung

Zum Zeitpunkt, als das Zitat des „Ruffreiner“ Kaufmannes in Publikationen „Deutschtiroler“ Autoren wie Christian Schneller (1831–1908) erstmalig zirkulierte, bedeutete „Deutschland“ und „Italien“ realpolitisch etwas anderes als zu jenem Zeitpunkt, an dem die angebliche Ursprungsaussage getätigt worden sei. Der Zusammenhang von „Süd- “ oder Welschtirol“ mit Deutschland erscheint aus der Perspektive der 1870er Jahre deshalb äußerst konstruiert: Der Deutsche Bund, in dessen südlichem Grenzbereich Rovereto als Teil des Kronlandes vor 1866 zu verorten war, wurde bekanntlich nach dem preußisch-österreichischen Krieg und der Durchsetzung der kleindeutschen Lösung aufgelöst. Teil des Deutschen Zollvereins war das Gebiet um Rovereto (wie auch die anderen österreichischen Territorien) nie. Vielmehr handelt es sich bei dem Verweis auf „Deutschland“ um eine historische Hilfskonstruktion im Sinne einer einseitigen, ethnisch-kulturellen Referenz, die von deutschnationalen Parteien und Vereinen weiterentwickelt wurde. Christian Schneller beispielsweise gilt ja als einer der Wegbereiter deutschnationaler „Schutzarbeit“ im historischen Tirol.    
Die zwei Begrifflichkeiten „Italien“ und „Deutschland“ erhalten in der Metapher die Bedeutung entgegengesetzter kultureller Ganzheiten, es gibt kein Dazwischen. Die seit 1848 intensiv geführte Autonomiedebatte um den südlichen und mehrheitlich italienischsprachig besiedelten Landesteil bildete dabei den Kontext einer virulenten Angst, das italienische Tirol könnte sich dem entstehenden oder geeinten italienischen Nationalstaat anschließen und unwiederbringlich Teil dieser fremden Entität werden. Diese Angst entzündete sich in unterschiedlichem Ausmaße am Konzept und Begriff eines Landes, einer Region oder einer Provinz Trentino. Das zeigt sich auch im Rahmen der Debatte über die Namensgebung der 1870 von Giovanni a Prato gegründeten Tageszeitung „Il Trentino“ eindrücklich.     
Die nationalen Einigungsprozesse in Deutschland und Italien brachten schließlich politische Räume hervor, die – wie das Zitat zeigt – auch als Sehnsuchtsorte in Tirol dienen konnten. Österreich oder Tirol als nationale oder regionale territoriale „Heimaten“ werden in der Metapher als mögliche Alternativen zu Italien ausgespart. Zu ethnisch inhomogen gestaltete sich die Struktur der Habsburgermonarchie, zu inkompatibel mit dem Mythos eines Deutschtiroler Heldenzeitalters („Tiroler Freiheitskampf“) offenbarten sich die Vorstellungen einer Trentiner Italianità.      

Weiterführende Literatur

Reinhard STAUBER, Von der „welschen Volkskultur“ zum „deutschen Kulturprinzip“. Christian Schneller und die Anfänge deutschnationaler Schutzarbeit im Süden der Habsburgermonarchie 1860/70, in: Geschichte und Region/Storia e regione 5 (1996), S. 143–162.

Mauro NEQUIRITO, Territorium und Identität in einer Grenzregion im 19. und 20. Jahrhundert. Der Streit um den Namen Trentino, in: Geschichte und Region/Storia e regione 9 (2000), S. 67–84.

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Alexander Piff
Historegio-Projekt: "Nation-building im regionalen Kontext. Deutschtirol - Welschtirol - Südtirol - Trentino (1848-1914)"

Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Kontakt: csag5636@uibk.ac.at

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