Technologietransformationen im Alpenraum: Motorisierter Tourismus
Die Quelle des Monats Januar ist eine Werbeanzeige, die am 10. Mai 1930 in der Londoner Tageszeitung "The Times" erschien. Sie hatte den Zweck, die touristischen Attraktionen der Dolomiten und Merans dem britischen Publikum bekanntzumachen. Die Reklame erwähnt eine "märchenhafte Alpenflora, schneebedeckte Gipfel und Gletscher" und beschreibt Cortina als "den modischsten Sommerurlaubsort Italiens" und Meran als "den gesündesten Kurort des Kontinents". Die Anzeige betont, dass die erwähnten Orte nicht nur Erholung, Wanderungen und Entspannung in einer spektakulären alpinen Umgebung bieten, sondern auch den Reiz haben, "ideale Automobilzentren" zu sein.
Seit der Jahrhundertwende um 1900 hatte das Auto einen schlagartigen Aufstieg erlebt, der es zum Inbegriff des modernen Verkehrsmittel werden ließ. Die Verbreitung von Autos in Tirol verlief zunächst relativ langsam. Im Jahr 1911 waren von den 7703 in Österreich verkehrenden Wagen nur 361 in Tirol gemeldet. 1927, nach dem Übergang Südtirols zu Italien, gab es im “Tridentinischen Venetien” 989 Privatwagen, eine Zahl, die nur die Statistiken der Basilikata und Sardiniens übertraf und weit niedriger als die 22.918 Autos der Lombardei war. Der Einfluss der Kraftfahrzeuge auf den Tourismus, der damals fast ausschließlich den wohlhabenden Schichten zugänglich war, erwies sich jedoch sofort als enorm. Sie ermöglichten es einerseits, sei es mit privaten oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln, auf einfache und bequeme Weise an ein Ziel zu gelangen, das mit der Eisenbahn nicht erreicht werden konnte. Die hier abgebildete Anzeige wirbt beispielsweise sowohl für die Garagen großer Hotels, als auch für einen Taxidienst zwischen Cortina und den touristischen Zentren Venedig und Oberammergau in Bayern. Andererseits wurde durch die Möglichkeit, schnell und unabhängig auf Aussichtsstraßen zu reisen, die Autofahrt selbst zu einem unvergesslichen Erlebnis stilisiert.
Vereine und Unternehmer, die das touristisches Potenzial des Autos erkannten, arbeiteten aktiv am Ausbau des Tiroler Straßennetzes. Der Tiroler Landtag hatte 1897 einen neuen Straßenplan genehmigt, der den Bau von 450 km neuer Straßen vorsah; weitere 361 km kamen 1908 hinzu. Zu den Straßen, die auch eine klare touristische Funktion erfüllen sollten, gehörte zum Beispiel die 1912 fertiggestellte Jaufenpassstraße, die Meran und Sterzing über das Passeiertal verband. Die Straße stellte eine Alternativen für die Verbindung mit Nordtirol dar, die sonst nur über das Eisacktal bestand. Gleichzeitig bot sie die Möglichkeit die Landschaft bis nach Meran zu genießen. Der Bau der berühmtesten Höhenstraße Tirols, die wie keine andere zum touristischen Erfolg der Region beitrug, geht auf die gleiche Zeit (1909) zurück: die Realisierung der "Großen Dolomitenstraße" von Bozen nach Cortina wurde vom Hotelier und Tourismuspionier Theodor Christomannos gefördert. Zweck der Straße war es, touristisch erschlossene Ortschaften leichter zugänglich zu machen; das Bauwerk stellte aber zweifellos auch eine Attraktion an sich dar.
Sobald die Technik es den Autos erlaubte, steile Hänge zu bewältigen, wurden auf den Alpenstraßen Rennen ausgetragen. Bereits 1898 fuhren im Rahmen der "Automobilfahrt durch Südtirol", der ersten Autorally der Habsburgermonarchie, drei (!) Autos die 465 km lange Strecke zwischen Trafoi und Cortina über Spondinig, Meran, Bozen, Franzensfeste und Toblach. Von 1910 bis 1914 organisierte der Österreichische Automobil Club eine “Alpenfahrt”, die aufgrund der extremen Bedingungen des Terrains bald zum berühmtesten Automobil-Event der damaligen Zeit wurde. Die Strecke der letzten Ausgabe, an der bereits 75 Fahrzeuge teilnahmen, führte über fast 3000 km und 30 Bergpässe. Nach dem Krieg wurde das Rennen unter der Mitwirkung verschiedener Automobilclubs organisiert, in "Internationale Alpenfahrt" umbenannt und auf den gesamten Alpenraum ausgedehnt. Es fand von 1928 bis 1936 mit großem Publikumserfolg und breiter Presseberichterstattung statt, und wurde in vielen kleineren Events nachgeahmt.
Ähnliche Sportveranstaltungen führten unternehmungslustige Autofahrer aus ganz Europa dazu, die Alpen auf eigene Faust zu bereisen. Diese Touristen konnten auf eigens für sie verfasste Reiseführer zurückgreifen, wie zum Beispiel "The High Roads of the Alps. A motoring guide to one hundred mountain passes”, der 1910 in London erschien. Der Autor, Charles Freeston, widmet einen großen Teil des Buches dem Land Tirol und stellt es seinen Lesern folgendermaßen vor: "Wir befinden uns in Bozen im Herzen eines Gebietes, das wie kein anderes in Europa den Namen des 'Autofahrerparadies' verdient. Ich habe elf Länder bereist, jedes davon umfassend, und ich zögere nicht zu sagen, dass Tirol das Ziel jedes Autofahrers sein sollte, der den Kontinent bereisen möchte". Laut Freeston bot Tirol ein ebenso spektakuläres Panorama wie die benachbarte Schweiz an, hatte aber gegenüber letzterer den Vorteil, viel mehr Straßen aufzuweisen die hervorragend projektiert und ohne Fahrverbote jeglicher Art waren. Der “automobilistische“ Ruf Südtirols wurde in den 1930er Jahren gefestigt, als sich das faschistische Regime dem Bau von Straßen wie der des Grödner Jochs und des Gampenpasses widmete, um damit (auch) den technischen Fortschritt und die Modernität der Zeit zu veranschaulichen.
Weiterführende Literatur
T. Christomannos, Die neue Dolomitenstraße Bozen-Cortina- Toblach und ihre Nebenlinien, (Wien: Reisser, 1909).
C.L. Freeston, The High Roads of the Alps. A motoring guide to one hundred mountain passes, (London: Kegan&Paul, 1910).
M. Pfundner, 100 Jahre Alpenfahrt, (Wien: Böhlau, 2010).
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Alice Riegler
Historegio- Projekt: “Technologietransformationen und ihre Folgen im Alpenraum im 19. Und 20. Jahrhundert”
Fachbereich Wirtschaftswissenschaften – Universität Trient
Kontakt: alice.riegler@unitn.it