Technologietransformationen

Der Horizontalschnitt der Turbine von Sankt Blasien

Die Turbine erschließt das Energiepotential der Alpen

Die Quelle des Monats Januar handelt von einer Technologietransformation, die im 19. Jahrhundert eine Energierevolution einleitete. Die Turbine entstand aus einer Weiterentwicklung des einfachen Wasserrades und war, im Vergleich zur Einfachheit ihres Vorgängers, gegen hohen Wasserdruck widerstandsfähiger. Diese Eigenschaft ermöglichte den Einsatz der Turbine zur Produktion von Hydroelektrizität und führte hiermit zu einer Transformation der Energielandschaft der Alpen.

„Die horizontalen Wasserräder und besonders die Turbinen oder Kreiselräder, ihre Geschichte, Construction und Theorie“ erschien 1840 in Chemnitz, in Sachsen. Der Autor war der Mathematiker und Ingenieur Moritz Rühlmann, der 1837 und 1838 verschiedene Studienreisen durch Europa unternahm, um die im Bau und im Einsatz befindlichen Turbinen zu besichtigen. Wie der Titel klar macht, enthält das Büchlein, das sich an ein Fachpublikum richtet, die Geschichte der Turbinen, die praktischen Regeln für ihren Bau und die mathematische Theorie ihres Betriebs. Heute ist die Quelle vor allem ein Zeugnis dafür, mit welchem Staunen die zeitgenössischen Beobachter das Erscheinen der Turbine begrüßten. Auch wenn sich die Quelle auf Deutschland bezieht, kann man sich leicht vorstellen, dass diese Neuerung ähnliche Reaktionen in Tirol auslöste, dessen wirtschaftliche Entwicklung, zusammen mit der des gesamten Alpenbogens, tiefgreifend davon erfasst wurde.

Zu ihrer Entstehung ist anzumerken, dass es sich bei der Turbine im Wesentlichen um eine "Neuerfindung" der Wasserräder handelte, die im Alpenraum schon seit eh und je im Einsatz waren. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Wasserkraft zuerst in Mühlen und dann für den Antrieb der Produktion von Hanf, Wolle, Ölmühlen, Papiermühlen, Sägewerken und verschiedenen metallurgischen Industrien genutzt. Die Turbine war eine direkte Nachfahrin des horizontalen Wasserrades, das im Mittelalter durch den vertikalen Typ verdrängt worden war. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts intensivierte sich die Suche nach einem praktischen und effizienten Horizontalrad für den industriellen Gebrauch. In Frankreich schrieb die Société pour l'encouragement de l'industrie national 1826 einen Preis von 6.000 Francs für diesen Zweck aus. Benoît Fourneyron gewann den Preis mit einer Maschine, bei der eine fixe zentrale Scheibe mit eisernen Fächern, die auf einem vertikalen Drehpunkt montiert war, das ankommende Wasser auffing und zu Schaufeln leitete, die sich auf einem äußeren Rad befanden. Im Gegensatz zu herkömmlichen Rädern nutzte die Turbine die Fallhöhe des Wassers optimal aus und wandelte die Energie effizienter um. Vor allem aber, ermöglichte ihre Widerstandsfähigkeit gegen hohen Druck die Nutzung von Wasserfällen die bis dahin ungenutzt waren.

1837 wandte sich Fourneyron einer Baumwollspinnerei in Sankt Blasien in Baden Württemberg zu, wo frühere Versuche, einen 108 m hohen Wasserfall mit einer Reihe von vertikalen Rädern zu nutzen, gescheitert waren. Die von Fourneyron installierte Turbine, die einen Durchmesser von nur 46 cm hatte, war in der Lage, 60PS mit 2.300 Umdrehungen pro Minute und einem Wirkungsgrad von 80% zu erzeugen, eine Leistung, die der eines jeden Wasserrades deutlich überlegen war. Rühlmann, der Sankt Blasien besuchte, drückte so seine Bewunderung aus: „Tritt man aber erst in die Radstube, erkennt dort, dass alles vorher fern von diesem Orte über das Ganze erfahrene nicht blosse Mystification, sondern Wirklichkeit ist, dann fühlt man sich vom Erstaunen ergriffen und bewundert, mehr als sonst wo die Grösse des menschlichen Geistes, der selbst die furchtbarsten Naturkräfte sich unterwürfig zu machen weiss. Immer wieder schien der gewaltige Druck das kleine Rädchen zertrümmern, und der in furchtbaren Spiralmassen aus demselben tretende Wasserstrahl die umgebenden Wände zerstören zu wollen. Oft wenn ich aus der Radstube getreten war und die ungeheure Höhe von Aussen ermass, von welche herab die Leitungsröhren das Aufschlagewasser zum Rade führen, schien es, als dränge sich mir der Begriff „Unmöglich“ auf, der aber ebenso schnell verschwunden war, trat ich wieder in jenem Raum zurück“.

Nicht nur Rühlmann war begeistert. In kürzester Zeit verbreitete sich die Turbine in ganz Europa und der Welt. Bereits 1843 gab es 129 Fabriken in Frankreich, Deutschland, Österreich, Italien, Russland, Polen und sogar Mexiko, die Räder, die nach dem Fourneyron-Verfahren gebaut waren, verwendeten. Nachdem die Vorteile der Turbine demonstriert worden waren, widmeten sich zahlreiche Ingenieure ihrer Weiterentwicklung. Sie modifizierten und verbesserten das ursprüngliche Modell und machten so immer mehr Wasserswege nutzbar. Einige Jahrzehnte lang wurde die Turbine zur Erzeugung von mechanischer Kraft eingesetzt, bis sie gegen Ende des Jahrhunderts zu einem der Hauptakteure der Energierevolution der "weißen Kohle" wurde. In Kombination mit einem Generator ermöglichte die Turbine nämlich die Nutzung der reichlich vorhandenen Wasserressourcen des Alpenraums für die Erzeugung von Hydroelektrizität. Letztendlich scheint es keine Übertreibung zu sein, dass diese relativ einfache technologische Innovation die Grundlage für die Umwandlung des Alpenraums in den größten Produzenten von Hydroelektrizität auf dem Kontinent war.

 

Bibliografie:

M.D. Landry, Europe’s battery: the making of the alpine energy landscape 1870-1955, (Dissertation, Georgetown University, 2013).

T.S. Reynolds, Stronger than a Hundred Men: The History of the Vertical Water Wheel, (Baltimore: John Hopkins University Press, 1983).

Die Quelle des Monats ist unter diesem Link online einsehbar:

https://books.google.co.uk/books?id=qsc9AAAAcAAJ&printsec=frontcover&redir_esc=y#v=onepage&q&f=false

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Alice Riegler

Historegio- Projekt: “Technologietransformationen und ihre Folgen im Alpenraum im 19. Und 20. Jahrhundert”

Fachbereich Wirtschaftswissenschaften – Universität Trient

Kontakt: alice.riegler@unitn.it

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