„Geist der Menschlichkeit” oder „Kathedralen des Fortschrittes”?
Die Quelle des Monats Juli ist ein Leitartikel der in der deutschsprachigen katholisch-konservativen Tageszeitung Dolomiten anlässlich der Einweihung der Wasserkraftwerke Kastelbell und Glurns im Sommer 1949 erschien. Der vermutlich vom Chefredakteur Kanonikus Michael Gamper verfasste Artikel behandelt den Gegensatz zwischen menschlichem Schicksal und technologischem Fortschritt anhand der Entwicklungen im Bereich der Wasserkraft im Vinschgau.
Hintergrund dieses Artikels ist die Geschichte des Reschensees, der als Speichersee für die beiden Kraftwerke dient, die über eine teilweise unterirdische Druckleitung mit Wasser versorgt werden. Die Idee, die Wasserressourcen des Oberen Vinschgaus für die Stromerzeugung zu nutzen, hatte sich unmittelbar nach dem Anschluss Südtirols an Italien durchgesetzt. In den 1930er Jahren genehmigten die faschistischen Behörden ein von der Montecatini Tochtergesellschaft Società Elettrica Alto Adige (SEAA) vorgelegtes Projekt. Dieses sah die Stauung der drei natürlichen Seen des Reschenpasses und die erhebliche Anhebung des Wasserspiegels vor. Die Bauarbeiten begannen 1939 und wurden, nach einer kriegsbedingten Unterbrechung, dank Schweizer Finanzierung, 1946 wieder aufgenommen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde klar, dass der Bau des Stausees die Überflutung der Dörfer Graun und Reschen erfordern würde, deren Bewohner trotz ihres heftigen Widerstands enteignet und zwangsumgesiedelt wurden.
Am Tag nach der Inbetriebnahme der Kraftwerke wies die Dolomiten darauf hin, dass das Opfer von Graun und Reschen beispielhaft für das Dilemma zwischen menschlichem Schicksal und technischem Fortschritt sei. In dem Artikel hieß es, dass um ihre Existenzberechtigung zu erhalten, Technologie, in erster Linie im Dienst der Menschheit stehen müsse, auch wenn sie hauptsächlich Bevölkerungen außerhalb der eigenen Grenzen zu Gute kommen würde. Millionen von Menschen mit Energie und Licht zu versorgen, sei gewissermaßen die „Mission“ eines Gebirgslandes wie Südtirol, solange dies nicht im Namen von „Kapital und Gewinnsucht, die etwa in unserem Lande ein günstiges Ausbeutungsobjekt erblicken möchte“, geschehe. Der Artikel betonte weiterhin den Grundsatz, dass die Ausnutzung der Ressourcen eines Landes so erfolgen sollte, dass den Bewohnern des Gebietes nicht die Lebensgrundlage entzogen werde. Der Autor behauptete, er sei sich bewusst, dass seit dem Aufkommen der Eisenbahn technologische Innovationen immer Kompromisse erforderten, aber er sei auch davon überzeugt, dass das Verhältnis zwischen privatem und öffentlichem Wohl nicht ausgeglichen sei, wenn ganze Gemeinden gezwungen seien, Haus und Hof aufzugeben. Der Artikel wies auch auf das Problem der Landenteignungen hin, die zu Vorkriegspreisen und damit zum deutlichen Nachteil der Eigentümer stattgefunden hatten, die in vielen Fällen noch auf eine angemessene Entschädigung warteten. Alles in allem veranschaulichten die Dolomiten, wie die Bewohner von Graun und Reschen im Namen des Fortschritts schreckliche Entbehrungen erlitten hatten, die in erster Linie der Montecatini und der nationalen Wirtschaft, aber sicher nicht ihnen selbst zugutegekommen wären.
Die Ereignisse im oberen Vinschgau hatten eine politische Auseinandersetzung ausgelöst, an der die lokalen Behörden, der italienische Staat und der Vatikan beteiligt waren. Die Kontroverse schien aber nicht die Aufmerksamkeit eines Landes zu erregen, welches den Wiederaufbau nach einer zwanzigjährigen Diktatur und einem Krieg als seine Priorität ansah. Die nationale Presse, die über die Einweihung der Kraftwerke berichtete, enthielt sich weitgehend eines Kommentars über die menschlichen Kosten ihres Baus. La Stampa, die politisch moderate Turiner Tageszeitung, pries den technologischen Fortschritt, den die „grandiosen“ Kraftwerke symbolisierten. Es gab nur einem kurzen Hinweis auf den „unverminderten Schmerz der Talbewohner, die gezwungen sind, ihre alpine Heimat zu verlassen“, ein Schicksal welches sie nebenbei bemerkt mit „virilem Stolz“ ertrugen. L'Unità, das offizielle Organ der Kommunistischen Partei, beschuldigte seinerseits die Regierung der „Elektrizitätsmonopolisten“, unvollständige Kraftwerke gebaut zu haben, die für die Lösung der Energiekrise ungeeignet waren und im Wesentlichen auf den Export von Energie in die Schweiz abzielten. Die Zeitung verurteilte die Arbeitsbedingungen der eingewanderten Arbeitskräfte aus dem Süden während der Bauarbeiten aufs Schärfste, erwähnte aber nicht die evakuierten Dörfer. Und das obwohl der Autor des Artikels der Trentiner Gino Lubich war, ein führendes Mitglied der kommunistischen Partisanenbrigaden, dem das Schicksal der überschwemmten Dörfer sicherlich bekannt war.
Die Dolomiten, wie auch die SVP, die Partei deren Ansichten die Zeitung vertrat, gaben einer weit verbreiteten Stimmung in der Südtiroler Bevölkerung Ausdruck, die die italienische Wasserkraftindustrie als Symbol für Besetzung und Ausbeutung wahrnahm und die Jahre später zu Bombenanschlägen auf Kraftwerke und Hochspannungsmasten führen sollte. Die Kritik der Zeitung richtete sich vor allem gegen die Montecatini, die nicht nur die treibende Kraft hinter dem Projekt gewesen, sondern auch für die Ankunft eines großen Kontingents italienischer Arbeiter verantwortlich war. Letztere verminderten nicht nur die Beschäftigungsmöglichkeiten der Einheimischen, sondern wurden auch als Bedrohung für die ethnische und kulturelle Identität Südtirols empfunden. Die Zeitung sah jedoch eine positive Note in der Intervention Degasperis, der in seiner Rede die Montecatini aufgefordert hatte, „die Bevölkerung im Geiste der Menschlichkeit und des Verständnisses zufriedenzustellen“. Wäre die Bevölkerung angemessen entschädigt, so der Leitartikel weiter, könnte die Einweihung die Bedeutung eines positiven Wendepunktes annehmen, auch wenn der Vinschgau nur ein kleiner Teil des großen Dilemmas zwischen Mensch und Technik war, das sich überall auftat. „Eine glückliche Lösung desselben“, so schloss der Artikel, „ist viel eher von dem Geist zu erhoffen, der aus den Worten Degasperis sprach, als von jenem, der aus der geschmacklosen Festinschrift in Kastelbell redete: ‚Kathedralen des Fortschritts‘“.
Bibliographie:
Marco Balzano, Ich bleibe hier, Zürich, Diogenes, 2020.
Andrea Bonoldi, Tiziano Rosani (a cura di), I cantieri dell'energia 1946-1962. Impianti idroelettrici in Val Venosta e nelle Alpi centrali, Bolzano, La Fabbrica del Tempo, 2007.
Ein kurzer Film der Eröffnung ist hier verfügbar:
Alice Riegler
Progetto Historegio: "Le trasformazioni tecnologiche e le loro ricadute in area alpina: XIX-XX secolo"
Dipartimento di Economia e Management – Università degli Studi di Trento
Contatto: alice.riegler@unitn.it