Vor 100 Jahren

italienischer Wachposten am Brenner, 1930er Jahre
italienischer Wachposten am Brenner, 1930er Jahre

"Italienische Regierungskrise wegen Deutschsüdtirol"

Leonida Bissolati legt sein Ministeramt nieder

Die geplante Annexion Südtirols durch Italien war auch in den politischen Kreisen Roms nicht unumstritten. Bereits am 27. Dezember 1918 berichteten italienische Tageszeitungen vom Rücktritt des Ministers für Kriegsfürsorge und Kriegsrenten, Leonida Bissolati. Bissolati war Mitglied der Sozialistischen Reformpartei Italiens (Partito Socialista Riformista Italiano) und befürwortete eine Grenzziehung nach ethnischen Grundsätzen und lehnte somit die geplante Brennergrenze ab.

Die italienische Tageszeitung La Stampa vom 29.12.1918 fasste die Vorstellungen des Reformsozialisten so zusammen:
"Die Wahrheit ist schlicht und einfach: der Abgeordnete Bissolati ist der Meinung, den Kroaten einen Teil Dalmatiens abzutreten, den der Londoner Vertrag Italien zugeteilt hat. […] Zudem möchte der Abgeordnete Bissolati nicht, dass die neuen italienischen Grenzen Fremdstämmige mit einschließen und ist sogar dagegen, die Alpengrenze bis zum Brenner zu verlegen."

Diese Unstimmigkeiten in den italienischen Regierungskreisen blieben auch der Presse nördlich des Brenners nicht lange verborgen. Am 10.1.1919 schrieb die Tageszeitung Allgemeiner Tiroler Anzeiger:
"Meldungen zufolge hat Minister Bissolati vor der Ankunft Wilsons [US-Präsident Wilson kam am 1.1.1919 in Italien an] seine Demission gegeben. Schon die Aeußerlichkeiten bewiesen, daß es sich um einen ernsten Konflikt handelt, der im Schoße der Regierung ausgebrochen sein muß. […] So erklärt [Bissolati] einem Mitarbeiter der „Morningpost“, er sei zurückgetreten, weil es ihm nicht gelungen ist, [Außenminister] Sonnino von seinem Festhalten an jenem Punkte des Londoner Vertrages abzubringen, der die Abtretung Dalmatiens, der griechischen Inseln festsetzt und vom Artikel 6 des Vertrages abzubringen, welcher Südtirol bis zum Brenner Italien zuspricht. Bissolati ist überzeugt, daß Italien vor allen Dingen auf freundschaftliche Beziehungen zu seinem Nachbar Gewicht legen muß."

Leonida Bissolati versuchte, am 11. Januar 1919 seine Friedensvorstellungen bei einer öffentlichen Rede in der Mailänder Scala darzulegen. Dabei wurde er aber von einer Gruppe Kriegsveteranen und Nationalisten unter der Führung von Benito Mussolini und Filippo Tommaso Marinetti durch Zwischenrufe und Lärm gezielt gestört, so dass er seinen Vortrag nicht halten konnte.

 





Symbolbild: italienischer Wachposten am Brenner, 1930er Jahre





[10.01.2019 Thomas Sinha]

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