Vor 100 Jahren

Grenzen
Quelle: Fotoarchiv Unsplash

Grenzschikanen

So titeln die Bozner Nachrichten vom 22. Juli 1921. Eine emotionsgeladene Geschichte über die Brennergrenze und über ein kleines Mädchen, das abgewiesen wurde, als es mit Erlaubnis der Eltern nach München reisen wollte.

Die Grenze, die Tirol seit dem Ende des I. Weltkrieges teilt, wurde vor 100 Jahren zu einem unüberwindlichen Hindernis auch für zwischenmenschliche Beziehungen. Die Parallelen zur heutigen Zeit drängen sich bei diesem Bericht aus den Bozner Nachricht vom 22. Juli 1922 auf:

,,Eine hiesige Familie wollte vor einigen Tagen ein dreizehnjähriges Töchterchen in Begleitung eines befreundeten Herrn zu Verwandten und zum Gebrauche einer Kur nach München senden. Da in Italien Pässe für Personen unter fünfzehn Jahren nicht ausgestellt werden, sondern deren Eintragung in dem Paß eines Erwachsenen genügt, gab man dem Kinde aus besonderer Vorsicht einem mit dem österreichischen und dem deutschen Visum versehenen, vom städtischen Polizeiamte in Bozen ausgestellten Identitätsschein nebst einer Wohnhaftigskeitsbestätigung mit. Der italienische Grenzkommissär am Brenner fand dieses Dokument für ungenügend und regte sich darüber so auf, daβ ihn die "gentilezza latina" vollständig im Stiche lies. Er machte die Kleine aussteigen, herrschte sie an und da sich der mitfahrende Herr weder deutsch noch französich mit ihm verständigen konnte, ließ der Beamte durch einen Dolmetsch bedeuten, daß die Kleine mangels eines regulären Passes wieder zurückfahren müsse. Bemerkt wird, daß in früheren Fällen mit dem gleichen Dokumente ausgerüstete Kinder ohne Umstand die Grenze passieren konnten.

Man kann sich den Schrecken und den Jammer des Kindes kaum vorstellen, als es seine Reise, auf welche es sich schon lange freute, so brutal unterbrochen sah. Der Herr mußte weiter fahren weil ihn unaufschiebbare Geschäfte riefen, das Kind kam in einer Baracke zu den Grenzsoldaten, wurde in einem später fahrenden Zuge nach Bozen geschickt und kam spät abends in Tränen aufgelöst und mit einem Nervenschock zu Hause an.

Am nächsten Tage fuhr die Mutter mit dem Kinde bis zum Brenner mit, diesmal zur Belehrung des Grenzbeamten mit einer Erklärung des Zivilkommissariates versehen, daß ein dreizehnjähriges Kind keinen eigenen Paß benötige. Anstandslos konnte nun die Kleine in der weiteren Obhut von Bekannten die Reise fortsetzen. Ob dem Grenzkommissär die dem Kinde unnötig bereitete Qual und die überflüssigen Geldauslagen eine besondere Befriedigung gewährten, bleibt unerforscht. Dieser bis zur Böswilligkeit gesteigerte Bureaukratismus kann jedenfalls als Beitrag zur Begründung der Notwendigkeit des Abbaues desselben gelten.

Astrid Panizza

panizza.astrid@gmail.com 

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