Vor 100 Jahren

Die italienische bank in trient im jahr 1922
Quelle: Europeana

Die Wirtschaftskrise in Südtirol und die versprochene Autonomie

Emil Kraft war ab 1908 zweiter Vizebürgermeister von Meran und wurde 1911 zum Abgeordneten des österreichischen Reichsrats für den Wahlbezirk Bozen-Meran gewählt.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs hatte er jener deutschösterreichischen Delegation angehört, die unter Führung des Staatskanzlers Karl Renner den Vertrag von Saint-Germain entgegenzunehmen hatte. Im Mai 1922 veröffentlichte er als Wirtschaftsexperte in der Grazer Tagespost einen Bericht zur Lage in Südtirol, der auch in den Innsbrucker Nachrichten von Mai 2. 1922 und im Bozner Tagblatt ein großes Echo fand. Er forderte dabei auch aus wirtschaftspolitischen Gründen die Gewährung der zugesicherten Autonomie.

So steht es im Artikel der Innsbrucker Nachrichten:

„Südtirol wird heuer eine überaus reiche Obsternte haben; die Obstpreise werden ungeheuer billig werden, aber niemand erhofft guten Absatz. Wer soll die Calville, Rosmarin und Edelrot bei der ungeheuren Fracht, den Zoll-, Stempel- und Valutaspesen kaufen in einer Zeit, wo sich fast alle Staaten gegen sogenannte Luxusware absperren? Noch viel schlimmer steht es für die Weinbauern, da Südtirol mit den italienischen billigen Sorten konkurrieren muß, und die besten Ausfuhrgebiete ihm verschlossen werden. Im Holzhandel ist bereits eine verzweifelte Krise ausgebrochen, die viele Firmen in den Bankrott getrieben hat. Diese Zustände sind eine Folge der politischen Veränderung der Landkarte. (...) In diese Schädigungen kommen noch solche, die vermieden werden könnten. Italien hat wie fast alle romanischen Länder niedere direkte und enorm hohe indirekte Steuern. Südtirol hat aber aus der alten österreichischen Zeit die direkten Steuern mit ihren alten und neuen Kriegszuschlägen beibehalten und diese noch erhöht auferlegt, dazu aber noch die indirekten Reichssteuern (Stempel) erhalten, ist daher schlechter dran als das übrige Reichsitalien. Von der österreichischen Industrie und Produktion ist Italien durch maßlos hohe Schutzzölle vollständig abgesperrt. Ein Import in den meisten Artikel ist fast ausgeschlossen, dazu kommen versteinerte Bestimmungen die geeignet sind, die österreichische Einfuhr vollständig zu unterbinden. (...) Südtirol leidet also doppelt: einmal unter dem Geldverhältnissen, dann durch die Abschnürung von seinen zwei alten Absatzgebieten. Die Leute sagen sich vielfach: wären wir bei Österreich oder bei Deutschland, dann hätten wir freilich schlechteres Geld, dafür aber viele Fremde in den Sommer- und Winterstationen, reichlich Absatz für Wein und Obst und sonst auch guten Verdienst. (...) Noch ist diese Erkenntnis nicht Allgemein durchgedrungen, sie steckt bei den meisten noch im Unterbewusstsein; wird sie aber allgemein, so wird es böse Folgen geben. Wenn die italienische Regierung gut beraten ist, so lässt sie die Stimmung nicht soweit kommen, sondern baut vor – gibt die versprochene Autonomie vor allem, damit die Südtiroler ihre Wirtschaft in gewohnter Weise in strenger Zucht und Ordnung, aber auch mit angestammten Gewissenhaftigkeit besorgen können (...)“

Astrid Panizza

panizza.astrid@gmail.com

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