Politischer Jahresschluss 1922
Eduard Reut Nicolussi, damals Südtiroler Abgeordneter des Duetschen Verbandes (Sammelpartei der deutschen und ladinischen Südtiroler, Vorgänger der heutigen Südtiroler Volkspartei) im italienischen Parlament, blickt am 30. Dezember 1922 in den „Bozner Nachrichten“ auf das abgelaufene Jahr zurück und wagt einen Ausblick auf die Zukunft.
Der mutige Widerstandskämpfer gegen Faschismus und Nationalsozialismus prangert die dabei die Komplizenschaft des italienischen Staates mit den Faschisten an und beschreibt beinahe prophetisch, welch schwere Zeiten auf die südlichen Landesteile des historischen Tirols zukommen werden, weswegen der Artikel nachstehend vollinhaltlich wiedergegeben wird:
„Das Jahr, das mit dem morgigen Tage untergeht, wird in der Geschichte Südtirols zu den düstersten gezählt werden. Zwar hat es mit einer eindrucksvollen Kundgebung unseres Volkes begonnen, mit den glänzend verlaufenen ersten Gemeindewahlen Südtirols unter der italienischen Herrschaft. Wir haben die große Befriedigung noch in uns, die der überwältigende Wahlsieg des Deutschen Verbandes und damit des deutschen Gedankens in uns damals auslöste. Unsere Stadt darf es insbesondere zur Ehre anrechnen, daß sie den greisen aber unbeugsamen Bürgermeister Dr. Julius Perathoner damals noch einmal auf den Schild hob.
Doch in andren Zeichen schließt das Jahr 1922. An Stelle der in altgewohnter Ordnung und Ruhe freigewählten Gemeinderäte und „des Bürgermeisters“, welche mit Gewalt gestürzt wurden, leitet die Geschäfte der Stadt ein Regierungsbeamter, dessen Befugnisse durch kein Gesetz gestützt werden. Von Trient, wo als Landeschef ein Beamter eingesetzt wurde, der unsere Sprache nicht versteht, kommen fort und fort neue gesetzwidrige Verordnungen, welche einem rein deutschen Lande das Gepräge der Gemischtsprachigkeit aufdrücken sollen. Der Verkehr der italienischen Behörden mit der Bevölkerung vollzieht sich immer ungehemmter ohne Rücksicht auf das nationale Recht und das praktische Bedürfnis unseres Landes. Die Verlautbarungen von wichtigen neuen oder auf die neuen Provinzen ausgedehnten Gesetze erfolgt vielfach nur mehr in italienischer Sprache. Besprechungen von Vorstehern werden unterdrückt. Die Bildung kultureller deutscher Vereine wird verboten. Kurz, das von italienischer Seite verkündete Programm, daß in Südtirol das deutsche Wesen ausgerottet werden muß, wird von den offiziellen Kreisen voll aufgenommen und die Bemühungen, dieses Programm der Verwirklichung zuzuführen, haben mit Nachdruck und Schärfe eingesetzt.
Ich möchte nun angesichts dieser Verhältnisse von zwei Dingen abraten: einmal von Entrüstung, dann von Entmutigung.
Vor dem Gefühle der Entrüstung warne ich deshalb, weil für 1923 noch schlimmere Dinge in Aussicht sehen: neue Einbrüche in unser Schulwesen sind zu erwarten; unsere alte, ehrwürdige, von Fachmännern des Verfassungsrechtes als vorbildlich bezeichnete Gemeindeautonomie soll nächstens der Vergangenheit angehören, mit ihr die Reste von Landesautonomie, die noch vorhanden sind. Das Hausrecht der deutschen Sprache in unseren Gerichten wird im Jahr 1923 radikal beschnitten werden. Vielleicht wird auch unser Zivilprozeßgesetz, das anerkannt beste in Europa, beseitigt werden. Die Gewerbegesetze werden sich auf die Dauer nicht halten können. Der Gedanke, daß in den neuen Provinzen, auch in den von Nichtitalienern bewohnten, alles öffentliche Leben den Verhältnissen in den alten Provinzen angeglichen werden muß, ist bei den derzeitigen Machthabern Italiens so zugkräftig, daß die sachlichen Vorzüge unserer Einrichtungen dagegen ebenso wirkungslos bleiben werden, wie etwa die Erinnerung daran, daß bei unserer Annexion vom Staatoberhaupt und von der Regierung Italiens aufs feierlichste versprochen, ja sogar in gesetzmäßiger Form festgelegt wurde, daß an unserer Kultur und unseren Verwaltungsformen nicht gerüttelt werden dürfe.
Auch darüber dürfen wir uns nicht wundern. Die jetzige Regierung Italiens stellt in jeder Beziehung eine Ausnahme dar. Wir haben sie durch den Umsturz der ersten Novembertage zur Macht kommen sehen. Ihre bald darauf abgegebene Erklärung, daß nunmehr eine Zeit strengster Gesetzlichkeit einsetzen werde, hat aber einen ganz anderen Sinn, als den wir nach diesen Begriffen verbinden. Zwei wichtige Staatsakte der letzten Tage lassen dies erkennen: eine Amnestie, die auf faschistische Delikte zugeschnitten ist und die Schaffung einer staatlichen Polizeimacht, in welche nur Faschisten aufgenommen werden. In diesen zwei Maßnahmen verkörpert sich eine Staatsauffassung, welche in der politischen Geschichte der letzten hundert Jahre kein Vorbild hat und uns nahelegt, unser Urteil gegenüber den neuen Staatsmännern nach einem ganz anderen Maßstabe einzurichten.
Insbesondere müssen wir damit rechnen, daß sich die gegenwärtige Regierung durch die uns bisher gegebenen Zusicherungen wie auch etwa durch eine Scheu vor unliebsamen Aufsehen bei den Zeitgenossen, weder gebunden noch gehemmt fühlen und das oben erwähnte faschistische Programm der Beseitigung des Deutschtums in unserem Lande mit unaufhaltsamer Energie durchführen wird, soweit die Dinge nicht stärker sind als die Regierungsmacht.
Denn wir, die wir die Gesetze des nationalen Lebens besser kennen als diese neuen Künstler, weil wir im alten Österreich-Ungarn das gewaltige Ringen junger und alter Nationen miterlebt haben, sind durch all diese Angriffe und Stürme, so kränkend und demütigend wir sie auch empfinden, nicht zu verwirren und zu entmutigen. Unser Leben gleicht jetzt vielfach der winterlichen Landschaft. Scheinbar liegt Todesruhe auf ihm. Nur scheinbar. Mag der Wind in grauen Weinbergen mit abgefallenem Blätterschmuck sein Spiel treiben! In der Tiefe leben die Wurzeln unserer Kraft. Ein Volk kann viele Jahre auf die offene Betätigung seines nationalen Lebens in Festen, Versammlungen, Vereinen, Fahnen und Bändern verzichten. So wird sich trotz allen Druckes unser Volkstum in Südtirol mit unbedingter Sicherheit erhalten, weil es einfach kein Mittel gibt, es zu vernichten. Und wenn der Winter vorüber ist, kommt der Frühling und gibt der anscheinend verdorrten Rebe Kraft, Saft, Laub und Frucht. Für unser Volk besteht kein Grund zur Mutlosigkeit. Völker haben Zeit zu warten.”
Astrid Panizza
panizza.astrid@gmail.com