Vor 100 Jahren

Die Sozialdemokratische Partei warnt mit ihrem Wahlplakat vor den Christlichsozialen, den Großdeutschen und den Nationalsozialisten
Stadtarchiv/Stadtmuseum Innsbruck, Pt-5339

Nationalsozialisten erringen erstmals Mandat in Innsbruck

Wahlanalyse der „Innsbrucker Nachrichten“

In den 1920er Jahren fanden in Innsbruck alle zwei Jahre Gemeinderatswahlen statt, um jeweils die Hälfte der Mandate neu zu besetzen. Bei der Wahl am 27. Mai 1923 stellte sich der legendäre Bürgermeister Wilhelm Greil nicht mehr der Wahl, was die Großdeutsche Volkspartei zu spüren bekam: Sie zählte zu den Wahlverlierern. Erstmals ein Mandat im Innsbrucker Gemeinderat erringen konnte die Nationalsozialistische Partei, die damit aber vorerst nicht über den Rang einer vernachlässigbaren Splitterpartei hinauskam. Erst zehn Jahre später, im Jahr 1933, verzeichnete die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) in Innsbruck einen großen Erfolg und erreichte mehr als 40 Prozent der Stimmen und neun Mandate. 

In der Ausgabe vom 28. Mai 1923 analysieren die „Innsbrucker Nachrichten“ das Wahlergebnis. Klar erkennbar die damalige politische Ausrichtung der Zeitung: 

„Die Signatur der Gemeinderatswahl – es sind von vierzig zwanzig Mandate zu besetzen – lässt sich dahin kennzeichnen, daß die in den Wahlkampf tretenden großen Parteien ihre Stimmenzahl im Vergleiche zu dem Ergebnis der letzten Gemeinderatswahl im allgemeinen festzuhalten vermochten. Die diesmal besonders lebhaft betriebene Agitation hat aber immerhin eine größere Zahl von Wählern zur Urne gebracht. Die Partei der Nichtwähler ist zusammengeschrumpft. Die Zahl der Wahlberechtigten beträgt 33.560; während bei den letzten Gemeinderatswahlen über 10.000 Wähler auf die Ausübung ihres Wahlrechtes verzichtet hatten, beträgt die Zahl jener, die gestern nicht zur Wahl gegangen sind, etwas über 8000. In der Parteiengruppierung seit den letzten Gemeinderatswahlen eine Verschiebung insoferne eingetreten, als sich neben die bestehenden Parteien eine neue Partei, die nationalsozialistische, mit einer Stimmenanzahl von 1800 Stimmen gestellt hat. Die Nationalsozialisten vermochten bei den letzten Wahlen nur etwa 600 Stimmen auf sich zu vereinen. Sie besetzen ein Mandat. Der Aufstieg der Nationalsozialisten ist wohl auf die namhafte Propaganda, die diese Gruppe in der letzten Zeit entfaltet hat, zurückzuführen. Die Bewegung wird auch von München aus unterstützt. 

Leider zeigt das Wahlergebnis, daß die Stimmen der Nationalsozialisten der Hauptsache nach auf Kosten der Stimmen für die Großdeutschen gehen. Es wäre wohl vom völkischen Standpunkte aus wünschenswert, wenn sich die Stoßkraft dieser radikalen Bewegung mehr gegen die internationale Sozialdemokratie richten würde. Die Sozialdemokraten haben dank ihrer Organisation und der überaus eifrigen Agitation 814 Stimmen gewonnen. Sie erobern ein Mandat. Die Christlichsozialen haben einen namhaften Stimmenzuwachs zu verzeichnen, vermochten jedoch kein Mandat dazuzugewinnen. Sehr ungünstig wirkte sich die Wahlziffer von 1250 für die Großdeutsche Volkspartei aus, die den Verlust von zwei Mandaten beklagt. Für die Großdeutsche Volkspartei waren eine Reihe ungünstiger Umstände zu verzeichnen, insbesondere hat der Wechsel in der Listenführung, da der langjährige Führer Bürgermeister Wilhelm Greil nicht mehr kandidiert hat, der Großdeutschen Partei begreiflicher Weise Abbruch getan. Keine Partei würde den Verlust eines derart prominenten Führers, wie es Bürgermeister Greil gewesen ist, ohne empfindlichen Stoß ertragen können. Die Anzahl der Stimmen der Großdeutschen zeigt aber doch, daß die Partei über starke Kräfte verfügt und die Hoffnung ist berechtigt, daß sie den gestrigen Verlust wieder wettmachen wird. Als für die bürgerlichen Parteien betrübliche Tatsache ist jedenfalls zu buchen, daß es den Sozialdemokraten gelungen ist, ein Mandat mehr zu gewinnen. Sie sind mit 16 Mandaten wieder die stärkste Partei im Gemeinderate.“

25.05.2023 - Maria Pichler

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