Beitrag „zur Festigung des nationalen Gedankens“
Passionsspielort Thiersee spielt „Wilhelm Tell“
Thiersee bei Kufstein ist bereits in den 1920er Jahren weit über den deutschen Sprachraum hinaus für seine Passionsspiele bekannt. Die Anfänge dieser Tradition reichen bis in das 17. Jahrhundert zurück; in einer Notzeit zum Ende des 18. Jahrhunderts leisteten die Bauern von Thiersee ein feierliches Gelöbnis, das Passionsspiel aufzuführen – ein Versprechen, an dem die Thierseer bis heute festhalten. Zwischen den „Passions-Spieljahren“ führt der Spielverein jedoch auch andere Stücke auf, wie 1923 den „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller.
„Kein anderes Schauspiel ist für die Jetztzeit so geeignet, zur Einigkeit unter den Deutschen zu mahnen“, bewertet der Tiroler Grenzbote in seiner Ausgabe vom 9. Juni 1923 die Stückwahl des Passionsspielvereins Thiersee:
„Und die Einigkeit tut not, will sich das deutsche Volk der Fesseln, an die es gemeinsam geschmiedet, entledigen. Unter schwerem Druck seufzt das deutsche Volk im Süden von Tirol, drückt es die Knechtschaft, unter der es am Rhein und an der Ruhr zu leiden hat, danieder. Ein Ruf nach Befreiung geht durch die Lande! Wie das Volk der Schweizer Waldstädte Uri, Schwyz und Unterwalden sich zu Beginn des 14. Jahrhunderts aus der Thyrannei seiner Landvögte befreite, zeigt Schiller in seinem ‚Wilhelm Tell‘! Der Schwur auf dem Rütli, den der Pfarrer Rösselmann aus Uri den dort versammelten Eidgenossen vorspricht, ‚Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr!‘ muß auch der Treueschwur des gesamten bedrängten deutschen Volkes werden. […]
Daß die Thierseer Theater spielen können, das haben sie durch 100 Jahre schon bewiesen. Sie spielen nicht jedes Jahr, sondern in Zwischenräumen von meistens 10 Jahren ihre allbekannte Passion und streuten zwischen hinein in den letzten Jahren die Darstellung der Volksschauspiele ‚Ben Hur‘, ‚Im Zeichen des Kreuzes‘, ‚Andre Hofer‘ und andere.
Wer diese Stücke gesehen, besonders die vor zwei Jahren gegebene Passion, wird sagen müssen, daß für die Thierseer die Aufführung von ‚Wilhelm Tell‘ ein besonderes Wagnis nicht bedeutet.“ […]
Die am 17. Juni beginnenden Vorstellungen werden reichlich Genuß bringen und zur Festigung des nationalen Gedankens beitragen.“
08.06.2023 - Maria Pichler