„O jerum, jerum!“
Sozialdemokraten auf Stimmenfang in fremden Gewässern
Im Herbst 1923 finden in Österreich Nationalratswahlen statt. Im Wahlkampf versuchen die Parteien, auch in fremden Gewässern nach Stimmen zu fischen. Mit einem scharfen Kommentar und einer bösen Karikatur kritisieren die „Lienzer Nachrichten“ in der Ausgabe vom 13. Oktober 1923 das Verhalten der Sozialdemokraten, die um die Stimmen der Bauern werben – und legen damit ihre politische Ausrichtung offen:
„O jerum, jerum!Ein altes Studentenlied endet bei jeder Strofe [sic] mit dem Refrain: o jerum, jerum, o qae [sic!] mutatiom rerum (welch Wandel der Dinge). Dies fällt einem wieder ein, wenn heute die sozialdemokratische Partei sich heute [sic!] als Beschützerin der Kleinbauern aufspielen will.
Auf Plakaten und Flugzetteln der roten Bauernfresser heißt es zur jetzigen Mahlzeit auf einmal, daß die Kleinbauern zu den Sozialdemokraten gehören und sich daher von ihnen vertreten lassen müssten. Da ist es nun doch einmal angebracht aufzuklären, ob das ein Aprilwitz oder ob den roten Führern mit der Liebe zum Bauernstande ernst ist.
Ernst ist den roten Führern und zwar mit folgenden Grundsätzen und Taten: ([August] Bebel [Begründer der deutschen Sozialdemokratie, 1830-1914, A.d.R.] auf dem Parteitag der Sozialdemokraten in Breslau.)
‚Wir können dem kleinen Bauer [sic!] nicht seine Erhaltung versprechen, das würde nicht nur unserer ganzen Parteitätigkeit, sondern auch unserem Programme widersprechen; wir können und wollen die Kleinbauern nicht erhalten.‘
‚Der bäuerliche Kleinbetrieb ist nicht imstande die Errungenschaften der modernen Wissenschaft zu nützen. Die Bauern sind zu unwissend, als daß sie ihre Wirtschaft den Lehren der Wissenschaft anpassen könnten… So ist das Sondereigentum an Grund und Boden das größte Hindernis unserer Versorgung mit Lebensmitteln. Will die Gesellschaft ihre Mitglieder ernähren, dann kann sie unsere Versorgung mit Lebensmitteln nicht armen Bauern und hochmütigen Grundbesitzern überlassen.‘ (Otto Bauer, 1910 in seiner Broschüre ‚Die Teuerung.‘)“
12.10.2023 - Maria Pichler