Paradigmenwechsel im Trentino
Volkspartei stößt Diskussion über ihre Haltung zum Faschismus an
In einer ersten Phase des aufstrebenden Faschismus in Italien hat die christdemokratische Volkspartei im Trentino eine Zusammenarbeit mit den faschistischen Kräften gebilligt. 1924 jedoch folgt ein Paradigmenwechsel: In ihrem Neujahrsgruß im „Il Nuovo Trentino“ am 1. Jänner 1924 stößt die Partei eine selbstkritische interne Diskussion über ihre bisherige Haltung zum Faschismus an und schreibt über „Lehren und Vorsätze“:
„Seit fast zwanzig Jahren unterhalten wir unsere treuen Leser zum Jahreswechsel in einem vertraulichen Gespräch über die Lehren der Vergangenheit und die Hoffnungen für die Zukunft. Nun, wir gestehen, dass diese Tradition im heurigen Jahr schwer auf unseren Schultern lastet und wir versucht sind, mit ihr zu brechen. In dieser hoffnungslosen gegenwärtigen Zeit und der ungewissen Zukunft im Neuen Jahr beneiden wir all diejenigen, die sich in die Stille zurückziehen können und nicht wie wir durch eine aufopferungsvolle Mission dazu gezwungen sind, ihre Gedanken öffentlich zu äußern und die Anstrengung zu unternehmen – oft vergeblich –, dem Mysterium eines unruhigen und verkrampften Lebens jene Formel zu entlocken, die es beschreibt, es erklärt, es lenkt. Gesegnet sind diejenigen, die […] in den neutralen Welten der Literatur, der Poesie und der Technik Zuflucht nehmen können oder in sich kehren und sich dabei die goldene Devise der ‚Nachfolge‘ zu eigen machen.
[…]
Und doch ist die Wahrheit eine andere.
Die Partei hat ihre Flagge und ihre Flotte vor dem Untergang bewahrt. Das Bewusstsein hat sich vertieft und gefestigt. Nach einem halben Jahrhundert der Enthaltung und vier Jahren der Unterstützung zur Verteidigung des liberalen Staates und der sozialen Ordnung werden die italienischen Katholiken mit ihrer demokratischen Gesinnung gerade jetzt das zentrale Problem, jenes des Staates, mit ihren eigenen Kriterien angehen: gerade jetzt wird das Motto Libertas, das im Jahr ’19 ausgerufen wurde, zur Kampfparole.
Ob wenige oder viele, möge es die Männer finden, die die Kraft haben, es in die Tat umzusetzen, das ist der Neujahrsgruß, den man den italienischen Volksparteilern übermitteln muss.“
04.01.2024 - Maria Pichler