„Auf dem besten Weg, in seiner neuen Heimat ebenso bekannt zu werden“
Albin Egger-Lienz stellt in Mailand aus
Der italienische Faschismus verfolgt interessiert die Südtiroler Kunstszene und versucht, vor allem die Vertreter der bildenden Kunst für sich zu gewinnen. Namhafte Tiroler Künstler werden zu Ausstellungen in Venedig und Mailand eingeladen. Der „Corriere della Sera“ schreibt am 18. Jänner 1924 über einen der bekanntesten Künstler aus Tirol:
„Albin Egger-Lienz, der Maler, von dessen rauer und herber Kunst uns die Galerie Pesaro derzeit reichliche Kostproben zeigt, wurde 1868 in Stribach-Göriach im Pustertal geboren, lebt aber seit einiger Zeit zurückgezogen und öffentlichkeitsscheu in seiner Villa in der Nähe von Bozen. Auch er hat mit den Boznern nach dem Krieg die italienische Staatsbürgerschaft erworben. In seiner Vorkriegsheimat schon äußerst bekannt, ist er nunmehr auf dem besten Weg, in seiner neuen Heimat ebenso bekannt zu werden, wenn er es nicht schon ist. Seine Gemälde, die zuvor vorzugsweise den Weg nach München und Wien fanden, gehen nun nach Venedig und Mailand; und innerhalb von nur zwei Jahren haben in Italien zwei Einzelausstellungen seiner Werke stattgefunden; von jener, welche die Biennale in Venedig im Jahr 1921 organisiert hat, bis zu dieser, die Lino Pesaro 1924 zeigt. Dieser Ausstellungsrhythmus ist ein schönes Zeichen für jenen Geist, mit dem Egger-Lienz seine erworbene Staatszugehörigkeit versteht und praktiziert; ebenso bedeutsam ist das herzliche Interesse, mit dem das italienische Publikum sein Werk aufnimmt und zu verstehen versucht.
Es zu verstehen ist nicht immer einfach; sich in es einzufühlen für uns Italiener auch in Bezug auf Rasse, Geschmack und Traditionen vielleicht noch weniger. Der Maler präsentiert sich uns in seinen Werken von mehreren Seiten: Verschiedene oder aufeinanderfolgende Momente seiner Kunst und seines Geistes werden dargestellt. Es scheint uns, als ob ihn zwei Gruppen von Gemälden besonders charakterisieren: Die eine reicht vom kraftvollen und robusten Impressionismus in Mittagessen bis zum expressiven und derben Synthetismus in Bergmäher und Sämann; die andere, die in immer grauere, nackte und karge Formen aufgeht, umfasst Gemälde, die weitgehend vom jüngsten Krieg inspiriert sind. […]
Wahrscheinlich werden nicht wenige Besucher dieser Ausstellung etwas Mühe aufwenden müssen, um sich an die düstere Tragik der Bilder zu gewöhnen; […] Für unseren aufrichtigen Genuss gibt es hier aber dutzende Gemälde, an denen wir uns ganz ohne Anstrengung ausgiebig erfreuen können. Es sind diejenigen Werke, in denen die malerischen Fähigkeiten von Egger-Lienz für uns mit einer weniger exzeptionellen und mehr kommunikativen Art des Sehens und Fühlens übereinstimmen. Es handelt sich um den Zyklus jener Gemälde, die das tägliche Leben auf den Feldern, die Intimität in der Familie, die Typen und Charaktere einer Rasse, das Leben der Tiroler Bauern darstellen. Was für eine Beobachtungstiefe, welch Ausdrucksdichte und meisterhafte Technik. Eine trockene, kurze, prägnante Sprache, die das Wesentliche sagt. […]
18.01.2024 - Maria Pichler