Hitzige Diskussionen um Wahlreformen
In Tirol wird der Wahlkreis Osttirol abgeschafft, in Italien stärkt Mussolini seine Macht
„Da ist es nun interessant zu sehen, wie in allen Parteien der Rechenstift zur Hand genommen und ausgerechnet wird, welches Wahlsystem der Partei am günstigsten ist“, schreiben die Lienzer Nachrichten am 14. Juli 1923 im Zuge der Wahlreform für die Nationalratswahlen in Österreich – eine Reform, mit der trotz Proteste der Wahlkreis Osttirol abgeschafft wird.
„Den christlichsozialen Tiroler-Abgeordneten lag die Erhaltung des Wahlkreises Osttirol besonders am Herzen. […] In wiederholten Schreiben hat die Landesparteileitung die Erhaltung des selbständigen Wahlkreises verlangt, bezw. den christlichsozialen Klub des Nationalrates aufgefordert, mit dem Gewichte seines ganzen Einflusses dafür einzutreten. Die Klubleitung in deren Händen die Verhandlungen lagen, ist dem auch gerecht geworden und hat die Erhaltung des Wahlkreises zur Parteiforderung gemacht. Die anderen Klubs haben diese Forderung ebenso entschieden abgelehnt. So bliebt das Verlangen der Osttiroler in der Minderheit.
[…]
Nachdem die Volksparteileitung selbst die Forderung erhoben hat, daß Osttirol seinen von ihm selbst aufgestellten und gewählten Abgeordneten haben soll, wird sie in der Praxis dem zustimmen, daß die Vertrauensmänner Osttirols ihren eigenen Kandidaten nominieren und derselbe auf ihre Forderung hin an sicherer Stelle in die gemeinsame Tirolerliste aufgenommen wird."
In Italien will Mussolini indes „ein neues Wahlrecht schaffen, das es ihm ermöglichen soll, ein Parlament nach seinem Herzen zu erhalten“, berichtet die Volkszeitung am 12. Juli unter dem Titel „Etwas Hitziges“ vom Vorhaben, für ganz Italien einen einzigen Wahlkreis zu schaffen:
„Der Kern des neuen Wahlrechtes ist folgender:
Ganz Italien bildet einen einzigen Wahlkreis. Von 535 Kammersitzen erhält diejenige Partei, deren Liste die meisten Stimmen erhält, zwei Drittel, nämlich 356 Sitze, während die restlichen 179 Sitze auf die übrigen Parteien verhältnismäßig verteilt werden. Es wäre also der Fall denkbar, daß die siegende Partei mit einer Stimme mehr gegenüber der nächststärksten Partei eine Zweidrittelmehrheit im Parlament erlangte, während sich letztere mit fünf bis sechs anderen Parteien in das verbleibende eine Drittel teilen müsste.
[…]
Selbstverständlich sind auch die nationalen Minderheitsparteien des italienischen Parlamentes, die Deutschen und Slawen Gegner des Regierungsentwurfes. Unsere Abgeordneten haben sich bereits nach Rom begeben, um von der Tribüne des Parlamentes aus im Namen der Südtiroler Bevölkerung ihre Stimme zu erheben und auch um dagegen zu Stimmen. […] Wird der Regierungsentwurf zu Fall gebracht – oder aber durchgedrückt – im einen wie im anderen Fall wird es ‚Hitz brauchen‘."
13.07.2023 - Maria Pichler