Quelle: Library of Congress, George Grantham Bain Collection
Fernab von „Hunger und Versklavung“
Ruhrkinder erholen sich in Tirol
Der Friedensvertrag von Versailles zwischen dem Deutschen Reich und den alliierten Siegermächten nach dem Ende des I. Weltkrieges verpflichtete Deutschland zu hohen Reparationszahlungen. Diese schnürten der jungen Weimarer Republik finanziell die Luft ab, die Hyperinflation und die schwere Wirtschaftskrise taten ihr übriges, dass Deutschland mit seinen Zahlungen säumig war. Die Siegermächte Frankreich und Belgien besetzten in der Folge im Januar 1923 das Ruhrgebiet, Herzstück der deutschen Industrie.
Mit unzähligen Verordnungen und Maßnahmen griffen die Besatzer massiv in das Leben der Menschen ein, erbauten Grenzsperren, erließen Ausgangssperren und errichteten Straßenkontrollen. Die Situation an der Ruhr wurde auch im historischen Tirol genau verfolgt. Während italienische Kinder sich in Ferienkolonien am Meer und in den Bergen erholten, nahmen Familien in Tirol Kinder aus dem Ruhrgebiet auf, um ihnen etwas Ruhe und Erholung fernab von Hyperinflation, Gewalt und oftmals bitterer Armut zu schenken.
Im Tiroler Grenzboten vom 25. August 1923 schreibt die Ruhrkinderhilfe Kufstein:
„Durch überaus fleißige Arbeit sind für 84 Kinder Pflegeplätze sichergestellt worden, über 6 Mill. Kr. [Millionen Kronen] wurden gesammelt. Die Bewohner des Gerichtsbezirkes Kufstein haben auch diesmal wieder bewiesen, daß sie für die Leiden der von grausamen Feinden unterdrückten Brüder und Schwester[n] im Ruhrgebiet warmes Verständnis und liebevolle Hilfsbereitschaft haben. Galt es ja doch, sich der unschuldigsten Opfer rachsüchtiger farbiger und weißer Feinde, der Kinder unserer im harten Kampf gegen Hunger und Versklavung stehenden Volksgenossen anzunehmen.
Herzlicher Dank für die rege Werbearbeit gebührt vor allen [sic!] außer den Kufsteiner Damen und Herren, die sich so uneigennützig in den Dienst dieser heiligen Sache stellten, noch Hochwürden Herrn Pfarrer von Niederndorf, Herrn Bürgermeister Praschberger von Walchsee, Herrn Oberlehrer Stadler von Ebbs, Herrn Rupprechter in Thiersee, Herrn Dr. Michael Widschwenter in Söll.
Nicht weniger danken wir jedoch auch den braven Tirolern und Volksgenossen, die sich bereit erklärten, Kinder aufzunehmen oder durch Geldspenden das Hilfswerk zu fördern.
Der Kinderzug wird anfangs September eintreffen und bitten wir die verehrlichen Pflegeeltern, sich auf diesen Termin einzurichten.
Wir bitten auch weiterhin, uns noch Anmeldungen und Spenden zukommen zu lassen, um auch noch später kommende Kinder unterbringen zu können.
Zuschriften, Anfragen wären zu richten an: Ruhrkinderhilfe Kufstein zu Handen des Herrn Friedrich Komposch, Kufstein.
Nochmals herzlichen Dank!
Der Ausschuß für die Ruhrkinderhilfe Kufstein.“
Die letzten Reparationen zahlte Deutschland übrigens erst im Oktober 2020.
24.08.2023 - Maria Pichler