„Der Raub des Bozner Gewerkschaftshauses“
Die Südtiroler Arbeiterbewegung wird zerschlagen
Am 16. August 1923 forderten die Faschisten das Bozner Gewerkschaftshaus für sich ein, besetzten die dazugehörige Druckerei und beschlagnahmten das sozialdemokratische Blatt „Volksrecht.“ Damit verlor die Südtiroler Arbeitnehmerbewegung ihr organisatorisches Herzstück. Der „Raub des Bozner Gewerkschaftshauses“ bedeutete auch das vorläufige Ende der Sozialdemokratie in Südtirol.
Der „Vorwärts“ – bis heute Zeitung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) – berichtete am 31. August 1923 im Detail über die einschneidenden Ereignisse in Bozen:
„Die Faschisten in Bozen.
Der Raub des Gewerkschaftshauses.
In Bozen (Südtirol) haben die Faschisten das Arbeiterheim ‚besetzt‘, das heißt gestohlen. Von unseren Bozener Genossen erhalten wir darüber folgenden Bericht:
Zahlreiche Genossen und Parteifreunde in Oesterreich und Deutschland kennen den schönen Bau des Bozener Gewerkschaftshauses, das im Jahre 1910 eröffnet wurde und seitdem der organisierten Arbeiterschaft in Südtirol als Beratungsstätte in Freud und Leid gedient hat. Als sich im Jahre 1920 die Herausgabe eines eigenen sozialdemokratischen Blattes für das von Italien annektierte deutsche Gebiet notwendig machte, wurden die Buchdruckerei- und Redaktionsräume im Parterre des Hauses untergebracht. Das Haus ist Eigentum des Ortsverbandes der Gewerkschaften Bozens und die Buchdruckerei steht als Handelsgesellschaft im Pachtverhältnis zu ihm. Infolge der darniederliegenden Bautätigkeit in den letzten Jahren, der Abwanderung zahlreicher deutscher Arbeiter und der bekannten Dezimierung der Eisenbahnerschaft hat naturgemäß die Gewerkschaftsbewegung Einbuße erlitten. Andererseits hat im letzten Jahre die faschistisch-syndikalistische Bewegung durch den erfolgten zwangsweisen Anschluß von deutschen Angestellten- und Beamtenorganisationen an Ausdehnung gewonnen. Obwohl nun in Bozen zahlreiche Lokale für die Unterbringung von Sekretariaten und Organisationsleitungen vorhanden wären, erhoben die Faschisten mit der Begründung, daß sie den Großteil der Arbeiterschaft Bozens in ihren Organisationen vereinigt hätten, die Forderung auf Uebergabe des aus den Beitragsmitteln sozialistischer Arbeiter errichteten und erhaltenen Gewerkschaftshauses.
Am Donnerstag, den 16. August wurden die Gewerkschaftsvertreter Ascher und Kartnaller sowie der Obmann des Hauskomités, Genosse Unterkircher, aufs Bozener Zivilkommissariat berufen, wo vom Unterpräfekten Bolis, also einem Regierungsvertreter, in höchst einseitiger Weise die ‚Verhandlungen‘ eingeleitet und dargelegt wurde, daß die von den Faschisten erhobene Forderung auf Auflösung der freien Gewerkschaften und auf Uebergabe des Gewerkschaftshauses samt der Druckerei zu Recht bestehe und daß man nichts anderes machen könne als das Haus zu übergeben, welches nur mehr im Besitze von drei Männern sei, damit es an die rechtmäßigen Eigentümer komme. In einer Viertstunde sollten unsere Vertreter sich über diese wohl einzig dastehenden Forderungen entscheiden. Dies wurde natürlich von ihnen abgelehnt und die Entscheidung einer Vertrauensmännerversammlung überlassen. Daraufhin erschien abends um 6 Uhr eine Gruppe von Faschisten im Gewerkschaftshaus. Im Beisein des Bozener Unterpräfekten wurde vom Trienter Sekretär Cav. Berti , einem ehemaligen Sozialisten, die Besetzung als vollzogen erklärt, das Gewerkschaftssekretariat, die Druckerei und die Redaktion versiegelt und Wachen zur Beaufsichtigung aufgestellt, damit nichts ‚verschleppt‘ werden könne. Der Druckereibetreib wurde allerdings Freitag nachmittags wieder geöffnet, steht aber unter der Aufsicht von jungen Leuten und ist infolgedessen stark beeinträchtig.t Die Redaktion blieb versiegelt und das Erscheinen des ‚Volksrechts‘ für Samstag wurde verboten. Alle diese Maßnahmen waren mit einer starken Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit der Druckereiangestellten und der führenden Genossen verbunden. […]“
Bis heute ist es weder auf politischer noch auf gerichtlicher Ebene gelungen, die Beschlagnahmung des Gewerkschaftshauses in Bozen rückgängig zu machen. Der ideelle Rechtsnachfolger der damaligen Südtiroler Arbeiterbewegung, der Autonome Südtiroler Gewerkschaftsbund ASGB, erwarb im Jahr 1997 mit eigenen Mitteln ein Haus für die deutsch- und ladinischsprachige Gewerkschaft in Südtirol.
31.08.2023 - Maria Pichler