Matteotti: „Märtyrer der Freiheit“
Das Ende der sozialistischen Presse
In ihrer Ausgabe vom 12. Juli 1924 gedenkt die Trentiner sozialistische Zeitung La voce del popolo unter dem Titel „An die Märtyrer der Freiheit“ der Ermordung des Kammerabgeordneten Giacomo Matteotti durch faschistische Squadristen. Die Redaktion setzt die Bluttat mit dem Tod des Trentiner Irredentisten Cesare Battisti gleich, der 1916 von den Österreichern gefangen genommen und hingerichtet worden war. Dieses Narrativ wird auch von dem Trentiner Maler Luigi Bonazza (unter anderem Autor einer der berühmtesten Darstellungen von Battisti) weitergeführt, der den „Märtyrer“ Matteotti zur selben Zeit im Auftrag der Trentiner Sektion der antifaschistischen Organisation „Italia Libera“ porträtierte. Die faschistischen Repressionen jedoch werden immer stärker, und im Laufe des Jahres muss La voce del popolo ihr Erscheinen unter dem Druck von behördlicher Zensur und Polizeikontrolle endgültig einstellen.
„Acht Jahre sind vergangen, seit Cesare Battisti auf dem österreichischen Schafott mit dem Ruf ‚Es lebe Italien!’ endete. Und vor wenigen Wochen erlitt Giacomo Matteotti das Martyrium durch die Hand italienischer Meuchelmörder, denen er die Worte entgegenschleuderte: ‚Tötet mich, aber die Idee, die in mir lebt, werdet ihr niemals töten!’
Battistis letzte Worte sind die Essenz von Matteottis prophetischem Satz. Beide waren unerschrockene Verfechter eines Glaubens und einer Hoffnung, die weder die missbräuchliche Staatsräson noch die Blindheit und parteiliche Grausamkeit zu unterdrücken oder gar auszurotten vermochten, sondern sie vielmehr belebten und stärkten.
Battisti vertrat die Idee, dass die Zerstörung der verkappten Autokratien Mitteleuropas das Zeitalter der wahren Demokratie herbeiführen und vor allem Italien – mit seiner endgültigen Einigung – absolute Unabhängigkeit und eine größere zivile, wirtschaftliche und soziale Entwicklung bringen würde. Und für diese Ziele wurde er, eigentlich ein erklärter Antimilitarist, Soldat und opferte furchtlos sein Leben als Sühneopfer.
Es sei daran erinnert, dass Battisti ein ebenso überzeugter wie eifriger Verbreiter des Sozialismus war: Die Erhebung und Befreiung der Arbeiterklasse stand für ihn an oberster Stelle.
Giacomo Matteotti war ein unermüdlicher Kämpfer und Verteidiger der Rechte des Volkes: Er untersuchte alle existenziellen Probleme in ihrem Zusammenhang mit den Funktionen des Staates; er ertrug Mühen und Entbehrungen, Kritik und Verfolgung im Namen des Sozialismus. Er erlitt die grausamste Rache seiner Widersacher, die in ihrer Geisteshaltung dem finstersten Mittelalter verhaftet sind.
Das Österreich der Habsburger verlor mit der Hinrichtung Cesare Battistis eine Feldschlacht und beschleunigte seinen eigenen Zerfall. Das offizielle Italien sank mit der Ermordung von Giacomo Matteotti in der Achtung der zivilisierten Staaten sehr tief. Aber das Volk wird es wieder emporheben.
Battisti und Matteotti – heroische Verfechter der Freiheit, unvergängliche Beispiele des Altruismus – waren nie lebendiger als nach ihrer Hinrichtung. Ihre Gedanken sind auf dem Weg zur Verwirklichung.
Eine Idee stirbt nicht. Es lebe die Demokratie, es lebe der Sozialismus!“
11.07.2024 - Maria Pichler