Verstehen

Physisches und psychisches Gewaltverhalten gegenüber Bürgerinnen

Mag. Renate Bolda-Hudovernik, Universität Innsbruck

Als der Erste Weltkrieg Anfang November 1918 zu Ende war, besetzte das zu den Siegermächten zählende Italien auch Nordtirol. Italienische Soldaten in schmucken Uniformen, braun gebrannt, dunkeläugig und dunkelhaarig, rückten in der Landeshauptstadt ein. Für Mädchen und junge Frauen ein „Hingucker". Der Beginn von Freundschaften war nicht aufzuhalten. Doch freundschaftliche Beziehungen zu den Besatzern zu pflegen - oder gar mehr - war unsittlich, verwerflich und ehrlos, und wurde von vielen Innsbruckern in keiner Weise toleriert.

Um Mädchen und Frauen abzuhalten, sich mit italienischen Offizieren einzulassen, bildete sich in der Stadt der „Bund der Dreißig", eine Organisation junger Männer, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, für Sitte, Moral und Ordnung in der Stadt zu sorgen. Jedes Mittel war den Burschen recht.

Bald gab es erste diesbezügliche Pressemeldungen. Es wurde berichtet, dass derart „charakterlose", „unzüchtige" Mädchen und Frauen auf offener Straße gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt waren. Zugleich wurde die Meinung kolportiert, solche Frauen hätten verdient, auf Dauer verachtet und lebenslänglich gebrandmarkt zu werden!

Alleine der Verdacht, mit italienischen Soldaten „frei zu verkehren", reichte, mit einer weiteren, nicht weniger grausamen Bestrafung bedroht zu werden: In der Öffentlichkeit an den Pranger gestellt und gedemütigt zu werden! Eine Schande, der Verlust des guten Rufes!

Mutmaßliche Übeltäterinnen wurden verfolgt und beobachtet, eine Namensliste dieser „Ehrvergessenen" wurde angefertigt und in besonders frequentieren Straßen und Plätzen der Stadt plakatiert. Am Schluss der Verzeichnisse hieß es: „Schmach den Mädchen, welche die deutsche Ehre so mit den Füßen treten. - Möge diese moralische Strafe eine dauernde und gute Wirkung ausüben!"

Eine betroffene Frau riss - angesichts der Erniedrigung - in der Maria-Theresienstraße in Innsbruck ein solches Plakat von der Litfasssäule und versuchte zu fliehen. Unverzüglich bildete sich eine entrüstete, wütende Menschenmenge, die die Flüchtende attackierte, und mit Schimpf und Drohungen bis nach Hause verfolgte. Es kam zu Ausschreitungen; beteiligte Zivilisten, ein Offizier und zwei Soldaten wurden dabei verletzt.

Auf der Schandliste stand auch der Name einer bekannten Schauspielerin des Innsbrucker Stadttheaters. Als diese bei einer Nachmittagsvorstellung auf die Bühne kam, wurde sie ausgepfiffen, beschimpft und bedroht; die Vorstellung musste abgebrochen werden.  

Zugleich rottete sich vor dem Theater eine aufgebrachte Horde von Hetzern und Schreiern zusammen; tumultartige Szenen entstanden, Fenster des Theaters wurden eingeschlagen. Wachmänner, die versuchten, das Ärgste zu verhindern, wurden dafür bespuckt und mit Steinen beworfen.

Schlimmstes Erlebnis im Leben einer Frau ist wohl physische und psychische Gewalt.

Frauen wurden hart bestraft, verfolgt und diskriminiert, wenn sie vor- oder außereheliche Beziehung pflegten, oder gar mit dem Feind intim wurden. Männern wurden hingegen solche Verfehlungen verziehen; oder es wurde großzügig darüber hinweggesehen.

Unzureichend beschützte Jugendliche - nicht wenige hatten im Krieg ihren Vater verloren - sollten vor negativen Einflüssen bewahrt werden. Deshalb wurden Kinder- und Jugendschutzorganisationen von offizieller Stelle angewiesen, „auffällige" Jugendliche zu erfassen. Es wurde empfohlen, die Halbwüchsigen in Horten und Heimen - während ihrer freien Zeit, besonders an Sonn- und Feiertagen und in den Abendstunden - zu beaufsichtigen!  Was wohl einem Wegsperren gleichkam!

Quellen:

Bote für Tirol, November 1918.

Allgemeiner Tiroler Anzeiger, März 1919.

Tiroler Volksbote, April 1919.

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